INSTITUT FÜR RELIGIONSWISSENSCHAFT Ansätze der Religionswissenschaft in Heidelberg
I. Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft
Seit ihrer Abgrenzung von theologischen und religionskritischen Ansätzen hat die Religionswissenschaft sich zunehmend als multimethodische und transdisziplinär agierende Kulturwissenschaft etabliert. Sowohl philologische, religionshistorische, -soziologische und -ethnologische Kompetenzen wie auch intensive Theoriebildungen, die sich an aktuelle wissenschaftstheoretische Entwicklungen anlehnen, sind dabei als Stützpfeiler der Religionsforschung unentbehrlich. Sie erlauben den Balanceakt zwischen Akteursorientierung und Diskursanalyse, zwischen Mikro- und Makroperspektive und zwischen Agency und Determinierung, der angesichts postmoderner Wissenskritik und der rasanten Entwicklung der Kognitions- und Neurowissenschaften notwendig ist.
II. Herausforderungen für die Religionswissenschaft
Einflussreiche religionswissenschaftliche, philosophische, soziologische und ethnologische sowie weitere kulturwissenschaftliche Arbeiten der letzten Jahrzehnte haben deutlich gezeigt, dass Religionen eine hochkomplexe Orchestrierung von Einzelakteuren und Akteurskollektiven, Ermöglichungs- und Verhinderungsstrukturen sowie von sinnlichen und kognitiven Reizen darstellen. Damit lässt sich die Frage nach der individuellen Handlungsfähigkeit des einzelnen Akteurs nicht mehr gegen die Frage struktureller Determinierung durch Sozialisierungs- und Machtkonstellationen ausspielen. Eher müssen wir von einem Neben- und Miteinander dieser scheinbar widersprüchlichen Kräfte ausgehen. Ebenso wenig kann die Trennung zwischen mentalen Vorstellungen und materialen Praktiken aufrechterhalten werden; in der Mediation, also der Vermittlungsleistung von Religionen, fließen beide Ebenen ineinander
III. Zweispurige Religionswissenschaft
Religionswissenschaftliche Arbeit muss ihrer Aufgabe zweispurig nachkommen. Einerseits hat sich in den letzten Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass jeder Versuch, den Begriff der Religion eindeutig zu bestimmen, auf wissenschaftliche Fiktion hinausläuft. Mit „Religion“ können ebenso soziale Praktiken beschrieben, die Anwendung von Gewalt legitimiert, die Publikation gewichtiger Handbücher vorangetrieben oder die Einheit mit einem angenommenen Transzendenten angestrebt werden - damit ist keine einheitliche Bestimmung ohne Unterdrückung anderer Bedeutungen möglich. Bei dem Begriff handelt es sich aus semiotischer Perspektive daher um einen flottierenden Signifikanten; Religion kann je nach Intention, Zuschreibung und Kontext alle möglichen Bedeutungen übernehmen. Statt nach der „richtigen“ Definition zu suchen, erörtern KulturwissenschaftlerInnen deshalb immer häufiger die Codes und Muster, nach denen sich Zuschreibungen an Religion ausbilden. Zum einen werden die Diskurse (d.h. kommunikative Aushandlungen von Bedeutung) untersucht, in denen von Religion die Rede ist. Dabei kann es sich sowohl um von Akteuren als auch in der Religionsforschung um als religiös bezeichnete Kontexte handeln. Eine entscheidende Frage dabei lautet, wer vom Gebrauch des Wortes Religion in welcher Weise profitiert. Dies geschieht mit der impliziten Annahme, dass Religion als gegenständliche und objektive Substanz nicht existiert - existent sind dagegen die sich ständig wandelnden semantischen Fixierungen, die es zu beschreiben gilt. Vor diesem Hintergrund ist, wie bereits angeklungen, jede Definition von Religion ideologisch.
Andererseits führt die anhaltende Theoriefixierung schnell in eine epistemologische Sackgasse, wie die anhaltende Debatte um das Für und Wider der verschiedenen Religionsdefinitionen sowie die Diskussion um eine vollständige Aufgabe des Religionsbegriffes zeigen. Forscher anderer Disziplinen wenden sich aus diesem Grund oftmals nicht an Religionswissenschaftler, da sie mit langen Vorreden über die Probleme der Bestimmung von Religion nicht viel anfangen können, und rezipieren ihren Religionsbegriff von weniger scheuen Vertretern anderer Disziplinen. Schließlich hat die anhaltende Debatte dazu geführt, dass so mancher Absolvent des Faches Religionswissenschaft souverän und virtuos in der Lage ist, Definitionen zu zertrümmern, ohne im Gegenzug sagen zu können, was Religion ist.
Trotz der Fluidität des Religionsbegriffes und der sozialen Realitäten, die er beschreiben soll, sind pragmatische Religionsbeschreibungen notwendig, damit die Erkenntnisse der Religionswissenschaft gehört und weiter vorangetrieben werden können. Diese Bestimmungen müssen selbstreflexiv auf bestimmte Abschnitte sozialer Realität zielen ohne ihre Erkenntnisse zu universalisieren. Heuristische Bestimmungen können zum Beispiel dabei helfen, Aussagen über die Kennzeichen des evangelikalen Christentums in den gegenwärtigen USA machen zu können, ohne gleich eine Essenz des Christentums zu beschwören. Die Frage nach der kausalen Verbindung zwischen Religion und Gewalt bzw. Gewaltlosigkeit lässt sich beispielsweise nicht eindeutig beantworten, da die implizierten Vorannahmen aus wissenschaftlicher Sicht als überholt gelten. Dennoch kann gezeigt werden, wo, wann und in welchen Kontexten religiöse Akteure und Akteurskollektive in Gewalt- bzw. Gewaltlosigkeitsdiskursen präsent sind und welche soziohistorischen Verbindungen nachgezeichnet werden können.
Bisherige Entwicklungen der Religionswissenschaft haben das Fach in eine Pattsituation geführt: Eigentlich müsste der Begriff „Religion“ als analytische Kategorie aufgegeben werden, da sich keine haltbare Definition finden lässt und gefundene Bestimmungen stets dazu beitragen, das Bild von Religion, das im Kopf der Wissenschaftler entstanden ist, in die Gesellschaft hinein zu diffundieren und dadurch im öffentlichen Diskurs wirksam werden zu lassen. So wird die vorgebliche Beschreibung dessen, was Religion ist, zur wirksamen Norm dessen, was Religion sein soll.
Damit sich diese Überlegungen in der Religionsforschung durchsetzen können, verbinden wir die widersprüchlichen Positionen zu einer fruchtbaren Synthese: Die Zweispurige Religionswissenschaft reflektiert die diskursive Macht des Religionsbegriffs und nimmt dennoch die Herausforderung an, heuristische Religionsbestimmungen vorzuschlagen, mit diesen zu arbeiten und sie in der Forschung anzuwenden.
IV. Pragmatische Arbeitsbegriffe
Neben dem Aufzeigen von Komplexität geht es der aktuellen Religionswissenschaft darum, ihre Erkenntnisse verlustfrei im gesellschaftlichen Diskurs zu kommunizieren, in dem sie selbst verortet ist. Dafür benötigt sie pragmatische Arbeitsbegriffe von Religion, welche die Komplexität reduzieren, sie aber nicht zugunsten von Banalisierungen aufgeben. Der Religionssoziologe Martin Riesebrodt bestimmt Religion beispielsweise als Glauben an übermenschliche Instanzen, mit denen Akteure im Cultus zum Zwecke von Heilsversprechen interagieren. Noch differenzierter definiert Thomas Tweed Religionen als "confluences of organic-cultural flows that intensify joy and confront suffering by drawing on human and suprahuman forces to make home and cross boundaries".
V. Fokus auf Materialisierungen von Religion
Einen weiteren Impuls für die aktuelle Religionswissenschaft bieten die Arbeiten zur "Religionsästhetik", wie sie im deutschsprachigen Raum schon 1988 wegweisend durch Hubert Cancik und Hubert Mohr vorgelegt wurden. Die Autoren stellen fest, dass Religionen neben ihrer kommunikativen Seite auch stets material verfasst sind und dass erst in der Untersuchung der sensorischen Dimension des Optischen, Auditiven, Haptischen, Gustatorischen, Olfaktorischen und Kinästhetischen die Materialisierung religiöser Diskurse greifbar wird. Daneben zeigt ein Blick auf die amerikanische Religionswissenschaft, wie das Konzept der „Material Religion“ - u. a. bekannt durch die Arbeiten von David Morgan - dass diskursive Religionswissenschaft und Religionsästhetik dialogisch gedacht werden können.
In der Überwindung der Dichotomie zwischen kommunikativer und materialer Verfasstheit liegt, wie Manuel Vasquez treffend feststellt, das enorme Potential religionswissenschaftlicher Theoriebildung, der es gelingen kann, ihren Untersuchungsgegenstand zu rematerialisieren und gleichzeitig als Kommunikationsprozess zu verstehen.
VI. Besonderheit der Religionswissenschaft in Heidelberg
Die Heidelberger Religionswissenschaft nimmt es sich daher zum Ziel, aktuelle kulturwissenschaftliche Impulse aufzunehmen, diese im eigenen Fachbereich anzuwenden und die Ergebnisse wieder in den interdisziplinären Dialog fließen zu lassen.
Das Studium und die Erforschung von Religionen im Rahmen der Heidelberger Religionswissenschaft verfolgen damit sowohl den diskursiven als auch den pragmatischen Zugang im Rahmen einer Zweispurigen Religionswissenschaft. Eine Besonderheit besteht im Fokus auf die Materialisierung von Religionen unter Einbezug neuerer semiotischer Entwürfe.
Inken Prohl und Dimitry Okropiridze (2019)