Dissertationsprojekt Tobias Pusch, M.A.
„Evangelisation als ästhetische Praxis – Atmosphäre, Gemeinschaftsbildung und Markeninszenierung im Rahmen der Eventreihe proChrist LIVE 2018“
Laufende Promotion
Die Anwerbung und dauerhafte Bindung neuer Mitglieder ist für christliche Gruppierungen oftmals ein Kernanliegen von heilsgeschichtlicher Relevanz. Zu diesem Zweck bildete sich im US-amerikanischen Protestantismus des 19. Jahrhunderts vor allem durch das Wirken des Erweckungspredigers Charles G. Finney (1792-1875) das Konzept der organisierten Großevangelisation heraus. Diese Missionsveranstaltungen verfolgen dabei das Ziel eine möglichst große Anzahl an Menschen zu erreichen um diese entweder erstmalig oder erneut zu einer persönlich erfahrbaren Beziehung zu Christus zu bewegen. Dafür greifen die durchführenden Evangelisten und Evangelistinnen auf geeignete Hilfsmedien, performative Strategien und großflächige Räume wie Theater oder Freiflächen zurück, wobei populärkulturelle Medienformate mit großer Offenheit adaptiert werden.
In Deutschland lassen sich erste Ansätze vergleichbarer Formate bereits in der Heiligungsbewegung des 19. Jahrhunderts nachweisen, doch fanden diese vor allem aufgrund der starken Ablehnung von als „englisch“ oder „pfingstlerisch“ wahrgenommen Praktiken durch national orientierte landeskirchliche und bürgerliche Eliten zunächst keine allzu weite Verbreitung.
Ab den 1950er-Jahren fand das Konzept der Großevangelisation durch die vom US-amerikanischen Evangelisten Billy Graham in der Bundesrepublik durchgeführten „crusades“ erneut Anwendung, welche vor dem Hintergrund des kalten Krieges und der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der zeitgenössischen Berichterstattung kontrovers diskutiert wurden. Obgleich Großevangelisationen in Deutschland heute nicht einen annähernd vergleichbaren Verbreitungsgrad wie in den USA vorweisen können, so finden sie weiterhin Anwendung, beispielsweise in Form der ebenfalls von Billy Graham beeinflussten Evangelisationsbewegung ProChrist.
Ausgehend von den theoretischen Überlegungen Birgit Meyers und Inken Prohls zur materialästhetischen Konstituierung religiöser Gemeinschaften nimmt die Studie daher diese Form von Evangelisationsevents als Aushandlungsorte evangelikalen Selbstverständnisses in Deutschland in den Blick. Aus dieser Perspektive kommt Großevangelisationen eine doppelte Funktion zu. Zum einen sollen diese Events durch ihre Inszenierung Außenstehende zur Konversion bewegen und ihre religiöse Identität transformieren. Zum anderen erfüllen diese Events aber auch die Funktion einer Festigung bereits bestehender religiöser Zugehörigkeiten. Wie werden also die dort präsentierten Konzepte christlicher Identität auf sinnlicher Ebene für die Teilnehmenden erfahrbar gemacht? Denn innerhalb des Feldes des deutschsprachigen Evangelikalismus bestehen divergierende Konzepte christlicher Identität und Zugehörigkeit, die auf performativer Ebene jedoch ästhetisch zusammengeführt und plausibel erfahrbar gemacht werden können. Durch diesen Ansatz verfolgt die Arbeit auch das Anliegen religionswissenschaftliche Perspektiven auf den deutschsprachigen Evangelikalismus zu eröffnen, die über konfliktorientierte Gegenüberstellungen von landeskirchlichem und evangelikalem Christentum hinausführen.